28

Kurze Zeit später flog Alex über die dunkle Landschaft. Kade saß neben ihr auf dem Copilotensitz, und drei seiner Stammesbrüder kauerten sich hinten im Laderaum zusammen. Kade gab ihr Richtungsanweisungen und steuerte ihren Kurs durch seine mentale Verbindung zu Luna unten am Boden.

Alex konnte sie nicht sehen. Dafür flogen sie zu hoch, und der Schnee in der Dunkelheit war zu dicht, um weiter als bis zur Nase des Flugzeugs sehen zu können. Das waren gefährliche Flugbedingungen, womöglich lebensgefährliche, aber Alex kannte die Gegend wie ihre Westentasche. Sie folgte Kades Anweisungen und konnte praktisch vorhersehen, welchen Weg Luna nehmen würde. Am Koyukuk entlang war jedenfalls die logischste Strecke in die freie Wildnis, die der Älteste hatte nehmen können.

„Bleib weiter parallel zum Fluss“, sagte Kade zu ihr. „Die Spur wird jetzt stärker. Wir holen auf.“

Alex nickte. Sie konzentrierte sich aufs Fliegen und die starken Böen, die von der Brookskette herabwehten, während sie weiter an dem zugefrorenen Fluss unter ihnen entlang flogen. Obwohl sie das vereiste Wasserband kaum erkennen konnte, wusste sie, dass sie bald an eine Stelle kamen, wo der fliehende Älteste sich entscheiden musste: entweder unten zu bleiben und darauf zu setzen, dass die zunehmend dichter werdenden Wälder ihn vor Verfolgern verbargen, oder nach Westen abzudrehen und in höher gelegenes Terrain zu fliehen, hinauf in die zerklüfteten Bergzüge der Kette. Optimale Landemöglichkeiten bot keine der beiden Varianten, doch bei diesem Wetter konnte es kaum etwas Tückischeres geben als einen abrupten Landeversuch auf hoch gelegenem, womöglich instabilem Fels.

„Er dreht ab“, meldete Kade. „Wir müssen uns links halten.“

„Okay“, erwiderte Alex und schickte ein stilles Gebet zum Himmel, als sie den Kurs änderte, sich nun vom Fluss entfernte und Richtung Berge flog. „Alle Mann festhalten. Jetzt wird's gleich turbulent, wenn wir in den Gegenwind geraten.“

„Alles klar da vorne?“, fragte Tegan von hinten. „Bist du sicher, dass du das packst?“

„Mit links“, sagte sie - nicht ganz wahrheitsgemäß - und spürte, wie Kades Hand herüberglitt und über ihre strich.

Seine Berührung fühlte sich gut an. Zwar hatte sie immer noch die grausigen Bilder aus dem Wald vor Augen, und ihr Magen fühlte sich deswegen immer noch wie ein Eisklumpen an - ganz zu schweigen von dem noch größeren Schrecken, den Ältesten bei Jennas Hütte gesehen zu haben. Trotzdem konnte Alex ihre Gefühle für Kade nicht verleugnen. Er war derjenige, der sie jetzt besser kannte als sonst jemand. Trotz allem, was mit ihnen und um sie herum geschehen war, konnte sie ihr Herz nicht völlig vor dem Trost verschließen, den nur er ihr spenden konnte. Nur er allein.

Etwas von ihrer Enttäuschung und Wut auf Kade und den Rest seiner Spezies war verflogen, seit sie miterlebt hatte, wie er und seine Freunde mit der furchtbaren Situation in der Hütte umgegangen waren. Kade war zärtlich und liebevoll zu Alex gewesen und hatte sich Jenna gegenüber respektvoll und fürsorglich gezeigt. Die übrigen Krieger ebenfalls. Vor allem der namens Brock, der zurückgeblieben war, um sich um Jenna zu kümmern.

Es war schwierig, sich mit dem Gedanken zu versöhnen, dass eine Rasse von Wesen, die so viel Menschlichkeit zeigen konnten, zum selben skrupellosen außerirdischen Geschlecht gehörten wie die Kreatur, die in den vergangenen Tagen Zach und so viele andere getötet hatte. Oder wie die blutsüchtigen Rogues, die ihre Mutter und ihren kleinen Bruder umgebracht hatten. Oder wie Kades Zwillingsbruder, den er ihr aus Scham verschwiegen hatte, bis Alex seine Grausamkeit selbst gesehen hatte.

Aber Kade und die Stammesvampire, die er ihr vorgestellt hatte, waren anders. Sie waren gute Männer, trotz ihrer außerirdischen Gene, die sie zu mehr als nur menschlichen Wesen machten.

Sie hatten Ehrgefühl.

Wie Kade. Und als sie ihn und seine Ordensbrüder jetzt durch Turbulenzen steuerte, auf die zerklüfteten Steilhänge der Berge zu, dem bevorstehenden Kampf mit einer außerirdischen Kreatur entgegen, hoffte sie nur, dass sie und Kade die Chance haben würden, das heillose Durcheinander ihrer Gefühle füreinander zu klären, und dass sich alles einrenkte. Sie konnte nur beten, dass sie irgendwann, wenn die Gefahr, die ihnen jetzt bevorstand, vorüber war, irgendeine Form von gemeinsamer Zukunft erwartete.

„Lima hat die Witterung des Ältesten am Fuß des Bergs aufgenommen“, meldete Kade neben ihr. „Oh Scheiße ... das ist nackter Fels und verdammt steil. Der Scheißkerl entwischt auf den Grat hoch. Im Gebirge werden wir ihn verlieren.“

„Sag mir einfach, in welche Richtung Luna läuft“, meinte Alex. „Ich sorge schon dafür, dass wir da hinkommen.“

Sie flog das Flugzeug den dunklen Grat entlang und folgte dabei Kades Anweisungen. Sie musste sich anstrengen, um angesichts der wirbelnden Schneeflocken durch die Frontscheibe überhaupt etwas zu sehen.

„Verdammt“, knurrte er einen Moment später. „Die Witterung ist weg. Die Spur ist kalt geworden. Luna läuft unter uns im Kreis um einen Felsvorsprung herum und findet seine Fährte nicht mehr.“

„Weil er an dieser Stelle gesprungen ist“, bemerkte Hunter monoton. „Der Älteste ist jetzt entweder über oder unter ihr.“

„Wir sind nah genug dran, um ihn zu Fuß zu verfolgen“, sagte Tegan. „Jetzt kommt er nicht mehr weit, wenn wir ihm auf den Fersen sind. Aber dafür müssen wir jetzt landen.“

„Okay, alle Mann festhalten“, sagte Alex. Sie spähte durch die Scheibe und sah, dass ihre Landemöglichkeiten sehr begrenzt waren. Das würde eine superkurze Landung werden.

Sie steuerte ein kleines Fleckchen unberührten Schnees an und zog die Maschine nach unten.

 

Kade hatte Alex schon vorher in ihrem Cockpit in Aktion gesehen, aber als sie das kleine Flugzeug jetzt mit einem sanften Gleiten auf einem schmalen, verschneiten Felsvorsprung absetzte, war er vor Bewunderung völlig platt.

Dass rechts und links nur ein knapper Meter Spielraum bestand, bemerkte er erst nach der Landung.

Keiner der Krieger gab einen Mucks von sich, als die einmotorige Maschine brummend in den Leerlauf ging und in heikler Position auf dem Grat zum Stehen kam.

Nicht einmal Hunter, der mit unerschütterlicher Miene stocksteif im Laderaum hockte - allerdings mit weißen Fingerknöcheln, weil er sich im Gepäcknetz festgekrallt hatte.

Schließlich murmelte Chase einen deftigen Fluch.

Tegan kicherte leise. „Teufelslandung, Alex.“

„Teufelsweib“, sagte Kade, dabei sah er durchs Cockpit zu ihr hinüber und empfand einen Stolz, zu dem er wahrscheinlich gar kein Recht hatte. Aber der kurze Blick, den sie ihm zuwarf, war weich und ließ ihn plötzlich Hoffnung schöpfen, dass er sie vielleicht doch nicht restlos verloren hatte.

Vielleicht hatten sie doch noch eine Chance.

Als die Gruppe aus dem Flugzeug kletterte, die Waffen anlegte und sich mit Munition versorgte, kam Luna den steilen Hang heraufgesprungen und schoss direkt in Alex' ausgebreitete Arme. Einen Moment lang hielt Kade egoistisch an seiner telepathischen Verbindung zu dem Wolfshund fest und genoss die Wärme von Alex' Liebe zu dem Tier.

Als er die Verbindung kappte, stand Tegan kampfgerüstet neben ihm. „Wir teilen uns wieder auf: Hunter übernimmt den Hang, Chase und ich decken den Fuß des Berges ab.“

Kade nickte grimmig. „Wo willst du mich haben?“

Tegan sah zu Alex hinüber, die mit lobender Stimme leise auf Luna einredete.

„Bleib hier und pass auf deine Frau auf. Das ist wichtiger als alles andere, oder nicht?“

Kade dachte über die Bemerkung nach. Sein Pflichtgefühl trieb ihn dazu zu sagen, dass im Augenblick die Mission das Allerwichtigste war. Dass nichts mehr zählte als sein Schwur gegenüber dem Orden, seinen Brüdern und ihren Zielen. Ein Teil von ihm glaubte es und wusste ohne den leisesten Zweifel, dass er für jeden der Krieger sein Leben geben würde, so wie auch sie für ihn sterben würden. Sie waren eine Familie, und diese Bindung war enger als jede andere, die er je gekannt hatte.

Aber Alex war sogar noch mehr als das.

Ihr gehörte jetzt sein Herz. Er würde nicht einmal den Versuch machen, das zu leugnen. Außerdem lebte Tegan in einer Blutsverbindung, und Kade wusste: Was der Gen Eins über Alex sagte, sagte er aus eigener Erfahrung.

„Ja“, gab Kade zu. „Ohne Alex ... oh Gott. Ohne sie wäre nichts mehr von Bedeutung.“

Tegan nickte, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. „Da solltest du vielleicht zusehen, dass sie das auch weiß.“

Er gab Kade einen Klaps auf die Schulter und winkte dann den anderen Kriegern, die nächste Etappe ihrer Verfolgung in Angriff zu nehmen. Nachdem Hunter sich zum nächsten Felsvorsprung hinaufkatapultiert hatte und Tegan und Chase auf den Abhang unter ihnen gesprungen waren, ging Kade zu Alex.

„Wir drei geben ein ziemlich gutes Team ab“, sagte er und kraulte Luna hinter den Ohren. Was er nur tat, um seine Hände von Alex fernzuhalten.

Sie schlang die Arme um sich. „Gehst du nicht mit den anderen?“

„Tegan wollte, dass ich bleibe und auf dich aufpasse. Er weiß, wie viel du mir bedeutest und dass es mich umbringt, wenn dir was passiert.“

Zwischen ihren Augen bildete sich eine kleine Falte. Sie sah ihn an, und eine ganze Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen. Nur der Schnee fiel leise, und in der Ferne war das schwache Heulen eines Wolfs zu hören.

Als Alex schließlich etwas sagte, war ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

„Ich wollte dich hassen. Als ich dich da im Wald gesehen habe, über und über mit Blut ...“

„Das war ich nicht“, erinnerte er sie. „Das war Seth, Alex.“

Sie nickte. „Ich weiß. Und ich glaube dir. In dem Moment habe ich aber dich gesehen. Dich, Kade, genau so ein Monster wie die Rogues, die meine Moni und Richie umgebracht haben. Ich wollte dich hassen in diesem Augenblick ...

aber ich konnte nicht. Ein Teil von mir wollte dich nicht gehen lassen, nicht mal dann, als du mir so grauenhaft und böse vorgekommen bist wie noch nie zuvor. Ich habe dich immer noch geliebt.“

Er stieß einen erleichterten Seufzer aus und zog sie in die Arme. „Alex ... es tut mir so leid, was du gedacht hast. Was du gesehen hast. Mir tut das alles schrecklich leid.“

„Das hat mich am meisten erschreckt, Kade. Dass ich dich sogar noch lieben könnte, wenn du ein Killer wärst. Sogar wenn du ein Ungeheuer wärst, wie ...“

„Wie mein Bruder“, ergänzte er leise. „Ich bin nicht er. Das verspreche ich dir.

Du musst nie Angst vor mir haben. Ich liebe dich, Alexandra. Das werde ich immer.“

Behutsam nahm er ihr schönes Gesicht in seine Hände und küsste sie. Sie fühlte sich so gut in seinen Armen, an seinen Lippen an, er hätte sie ewig küssen können.

Doch hinter ihnen versetzte Lunas tiefes Knurren Kades Kampfinstinkte in Alarmbereitschaft.

Er spürte nur einen leisen Lufthauch, als er Alex losließ und sie reflexartig hinter sich zog ...

Genau in der Sekunde, als ein großer, schwarzer Schatten vom Himmel stürzte.

Einige Meter von ihnen entfernt landete der Älteste anmutig auf seinen Füßen im Schnee. Die tödliche Kreatur fletschte die Zähne und entblößte ihre gewaltigen Fänge, fixierte Kade mit ihrem bernsteingelben Blick und zischte mordlustig.

Lara Adrian- 07- Gezeichnete des Schicksals
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